
Es lebe Europa
Premiere, 12. August 2021, 19:30
von Paul Scheerbart
Die deutsche Kaiserzeit, eine Dekade vor ihrem Ende: Gesellschaftlicher Stillstand und mangelnde Entfaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, Verelendung der proletarischen Massen in den Städten, gepaart mit einer rasanten technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und einer experimentierfreudigen Kunst, schließlich die Ahnung eines bevorstehenden mörderischen und erbarmungslosen Krieges, stellen kompromisslos die Frage nach Zukunft.
In krisenhaften Zeiten sind die soziale Frage von Arm und Reich, die Debatten um zukunftsweisende Gesellschaftsmodelle und die Isolation und Einsamkeit des Individuums die Ingredienzien für Paul Scheerbarts zahlreiche Dramolette, jedes kaum länger als 10 Minuten. In ihnen radikalisiert er seine Figuren zu einem Reigen des Scheiterns. Ihre Protagonisten agieren in manischer Hyperaktivität, führen sich und die Gesellschaft in absoluter wie absurder Zuspitzung vor. Paul Scheerbarts Stücke sind verzerrende Hohlspiegel einer Gesellschaft, die es trotz prosperierender Ökonomie nicht schafft, eine positive Vision zu entwickeln und an Mangel von Empathie und Phantasie zugrunde geht.
Mit diesen Momentaufnahmen, die ein Brennglas auf den Mikrokosmos individueller, spielerischer, aber immer existentieller Machtausübung richten, ist Scheerbart ein nur selten gespielter revolutionärer Theatererneuerer, der auch einen Gegenentwurf zum Dogma neoliberaler Ausbeutung, Überwachung und inszenierter Individualität formuliert.
ES LEBE EUROPA
DIE PUPPE UND DIE DAUERWURST
DIE URGROSSMUTTER
DER DIREKTOR
DAS DONNERWETTER
DAS MIRAKEL
DER SCHORNSTEINFEGER
DER HERR VOM JENSEITS
Jeder dieser Texte dramatisiert eine Kurzgeschichte, die übergreifend das persönliche Scheitern an den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Thema hat. Folge dieses Scheiterns ist jeweils der soziale Tod der Hauptfigur. Die Grundidee der Inszenierung ist daher das Sujet des Totentanzes. Die Toten müssen wieder zurückkehren an den Ort ihres Scheiterns und als Reenactment die Szene ihres Todes erneut spielen. Scheerbarts Figuren schreien nach Liebe, nach romantischer Geborgenheit - formuliert wie ein phantastischer Gegenentwurf zur Welt unserer neoliberalen Selbstausbeutung.
Paul Scheerbart, geboren 1863 in Danzig, übersiedelte nach dem Studium der Philosophie und Kunstgeschichte 1887 nach Berlin. Bis zu seinem Tod 1915 lebte er in ärmlichen Verhältnissen in Berlin Lichterfelde. Er gründete 1892 den Verlag deutscher Phantasten und reüssierte 1902 mit dem Roman „Die große Revolution“ der ihm keinen finanziellen Erfolg, jedoch erste Anerkennung in literarischen Kreisen einbrachte. Ernst Rowohlt verlegte 1909 als erstes Buch seines neuen Rowohlt Verlages Scheerbarts Gedichtsammlung „Katerpoesie“. Scheerbart inspirierte mit seinem Aufsätzen über die „Glasarchitektur“ Bruno Taut, aber auch Walter Benjamin, der einen bewundernden Essay über Scheerbarts Lesebuch „Lesabendio“ schrieb. Er verfasste außerdem Theorien über die radikale Modernisierung des Theaters, insbesondere des Bühnenbildes. Paul Scheerbart schuf auch fantastische Federzeichnungen und arbeite jahrelang unermüdlich an der Entwicklung des Perpetuum Mobile.
Es spielen: | |
JOHANNA PALIEGE | |
SASKIA VON WINTERFELD | |
PETER BECK | |
UWE NEUMANN | |
Regie: | JENS SCHMIDL |
Ausstattung: | THOMAS LORENZ-HERTING |
Musik: | BERND MEDEK |
Mitarbeit Kostüme: | ALEXANDRA POMMERENING |
Regieassistenz: | SABRINA POLLINGER |
Licht: | FABIAN BLEISCH |
Pressestimmen
"Scheerbart statt Shakespeare? Dass das geht, zeigt das Globe Berlin (…). Insgesamt ein recht unterhaltsamer Abend, dessen Sinn sich nicht jedem uneingeschränkt erschließen wird, der aber einen guten Einblick in die Gedankenwelten Paul Scheerbarts gibt."
Stefan Bock: Scheerbart statt Shakespeare, KULTURA EXTRA Premierenkritik am 16.8.2021
"(…) Er (Christian Leonard) verweist darauf, dass die Open-O-Bühne nur ein Provisorium ist. Bald soll in Charlottenburg ein richtiges Globe Theater stehen, mit Dach und mehreren Rängen. Die Lottomittel für den Aufbau seien da, nur der Bezirk brauche noch etwas. Mitreißendes Theater gibt es aber jetzt schon. Die Shakespeare-Produktionen aus dem Repertoire und jetzt auch die Kurzdramen von Paul Scheerbart."
Oliver Kranz in der Frühkritik auf rbb kultur am 11.8.2021